1. Was ist «Wiedergeburt»?
	
	Falls die Statistiken nicht fehlgehen, glaubt heute bereits jeder fünfte 
	Europäer an Wiedergeburt, Reinkarnation, 
	Seelenwanderung oder Metempsychose. Diese Statistiken geben freilich keine 
	Auskunft darüber, wie der heutige Mensch sich die Wiedergeburt konkret 
	vorstellt. Von daher erweist es sich als wichtig, von vornherein 
	verschiedene Vorstellungsweisen von Reinkarnation zu unterscheiden:
	Es gibt zunächst die afrikanische Vorstellung von Wiedergeburt. Diese 
	beinhaltet, dass die Ahnen in den Nachkommen weiterleben, so dass der Mensch 
	in seinen eigenen Kindern den wiedergeborenen Ahnen 
	begegnen kann. Weit davon entfernt ist die Vorstellung der Wiedergeburt, wie 
	sie ursprünglich in den östlichen Religionen des Hinduismus und des 
	Buddhismus beheimatet ist. Diese Vorstellung ist wiederum um eine ganze Welt 
	verschieden von der Wiedergeburtsvorstellung, wie sie bei uns in Europa groß 
	geworden ist. Um nur die zwei wichtigsten Unterschiede zu benennen: In den 
	östlichen Religionen des Hinduismus und des Buddhismus ist die Vorstellung 
	der Wiedergeburt erstens ein ungemein tragischer Gedanke. Kein Hindu und 
	kein Buddhist hofft auf Wiedergeburt, sondern jeder hofft darauf, ringt und 
	betet darum, endlich aus dem schrecklichen Kreislauf der Wiedergeburten 
	befreit zu werden. Wie tragisch diese Vorstellung in den östlichen 
	Religionen ist, lässt sich zudem daran ablesen, dass nach bestimmten 
	Ausprägungen dieser Religionen sogar die Götter dem Prozess der 
	Wiedergeburten unterworfen sind. Dem gemäß werden die immer neuen 
	Reinkarnationen als etwas Fürchterliches empfunden. 
	Deshalb richtet sich, wie Wolfgang Pannenberg treffend bemerkt, die 
	eigentliche Hoffnung der Hindus wie der Buddhisten «nicht auf die 
	Wiedergeburt, sondern auf Befreiung aus dem 
	Kreislauf der Wiedergeburten durch die Kraft der Erkenntnis». Was in den 
	östlichen Religionen also eine tragische Vorstellung ist, ist in Europa 
	demgegenüber zu einer großen Hoffnung geworden. Hier wird die Möglichkeit 
	zur Wiedergeburt als großer Trost empfunden und als Hoffnung auf neue 
	Chancen für ein misslungenes Leben oder für eine weitere Stufe der 
	Vervollkommnung freudig begrüßt. Während in den östlichen Religionen die 
	Erlösung der Seelen gerade darin besteht, dass sie einmal nicht mehr 
	wiedergeboren werden müssen, erweist sich demgegenüber in den europäischen
	Reinkarnationsvorstellungen der Kreislauf der Wiedergeburt selbst als 
	Weg der Erlösung. 
	
	
	Der zweite große Unterschied besteht darin, dass in den östlichen Religionen 
	die Vorstellung der Wiedergeburt dazu dient, dem Menschen jeden Anflug der 
	Konzentration auf das eigene Ich überwinden zu helfen. Denn die Lehre von 
	der Wiedergeburt hat das Ziel, dass der Mensch sich 
	von sich selbst löst, damit er frei wird, ins Nirwana eintreten zu können. 
	Insofern gehört das «Subjekt», sofern man überhaupt von einem solchen reden 
	kann, zum Kreislauf der Wiedergeburten selbst und muss aufgelöst werden, 
	wenn es Erlösung finden soll. Im Buddhismus muss man paradoxerweise sogar 
	von einer Seelenwanderung ohne Seele reden. Demgegenüber ist es für die 
	europäischen Reinkarnationsvorstellungen charakteristisch, dass sie von 
	einer Fortführung des persönlichen Lebens nach dem Einschnitt des 
	biologischen Endes ausgehen und dass sie die Reinkarnationen als 
	hoffnungsvolle Erweiterungen der Lebensmöglichkeiten über den Tod hinaus 
	denken. Insofern geht es den westlichen Reinkarnationsvorstellungen gerade 
	um die postmortale Sicherstellung des menschlichen 
	Ich. In Europa hat folglich die Lehre von der Wiedergeburt oft den Sinn, das 
	eigene Ich sogar noch Tiber den Tod hinaus retten zu 
	wollen. Sie ist in ihren verschiedenen Formen fast so etwas wie ein 
	posthumer Egoismus in der Gestalt der Konzentration auf das eigene Ich. Der 
	reformierte Theologe Jürgen Moltmann urteilt jedenfalls mit Recht, wenn er 
	betont, die westliche «Lebensgier», die sich darin ausdrücke, sei «ganz 
	unindisch, um nicht zu sagen: unerleuchtet .
	
	
	
	2. Ist die Lehre von der Wiedergeburt beweisbar?
	
	Wenn wir bisher von der europäischen Wiedergeburtsvorstellung gesprochen 
	haben, ist dies natürlich ungemein vereinfacht. Man muss vielmehr auch im 
	Lebensbereich Europas unterscheiden zwischen der höheren
	Form der Wiedergeburtslehre wie sie beispielsweise in der Anthroposophie 
	Rudolf Steiners vorliegt, und den eher vulgären Formen, wie sie im 
	Volksbewusstsein leben. Wenn diese eher populäre Lehre von der
	Wiedergeburt bei uns weit verbreitet ist, stellt sich die Frage, wo die 
	Ursachen dafür liegen und wie dieses Phänomen genauerhin zu verstehen ist. 
	Die weite Verbreitung dieser Vorstellung dürfte dabei mit einigen
	Grundzügen unserer heutigen Gesellschaft zusammenhängen.
	
	
	Unsere heutige Gesellschaft ist erstens eine ungemein fortschrittsgerichtete 
	und wissenschaftsgläubige Gesellschaft. Die Wissenschaft ist derjenige 
	Bereich, der für den heutigen Menschen zählt. Dies lässt sich
	bereits daran ablesen, dass die Experten großgeschrieben sind, was bis in 
	die Werbung im Telespot hinein beobachtet werden kann. Soll ein Produkt gut 
	angepriesen werden, lohnt es sich, einen einigermaßen gut
	aussehenden Mann anzustellen und ihn in einen weißen Kittel, das 
	liturgische Gewand des heutigen «Priesters», eben des Experten, zu stecken. 
	Denn der heutige Mensch will nicht mehr einfach auf Glauben
	angewiesen sein, sondern er will es wissen können. Von daher ist die Tendenz 
	sehr groß, auch im Blick auf das Leben nach dem Tod nicht
	mehr auf Glauben angewiesen zu sein, sondern es wissen zu können. Die 
	meisten Vertreter des Reinkarnationsglaubens gehen deshalb davon aus, dass 
	es sich dabei gerade nicht um einen Glauben handelt, sondern 
	um Fakten, die man ganz genau beweisen kann. Sehr viele Vertreter der
	Wiedergeburtslehre halten es für beweisbar, dass der Mensch wiedergeboren 
	wird.
	
	In der Tat gibt es nicht wenige Anzeichen dafür, dass dem so sein könnte. Es 
	gibt Menschen, die sich an frühere Leben erinnern. Es gibt Menschen, die ein 
	Wissen davon haben, was in früheren Zeiten gewesen ist, 
	ohne dass sie Geschichte studiert haben, einfach intuitiv in sich. Solche 
	Fakten kann man nicht einfach leugnen. 
	Im Blick auf die Wiedergeburtslehre wäre es verfehlt, von der Kirche her 
	einen neuen Fall Galilei zu inszenieren, indem sich die Kirche gegen 
	abgesicherte Fakten zur Wehr setzen würde.
	Auf der anderen Seite aber ist zu bezweifeln, ob jene Daten, die darauf 
	hinweisen, dass es ein Wiedergeborenwerden der Menschen gibt, als Beweise 
	wirklich standhalten können. Denn alle jene Fakten, die man 
	aufzählen kann, sind letztlich nicht mehr als Vermutungen und Hinweise, 
	nicht hingegen aber Beweise. Mit den sogenannten Beweisen für die 
	Wiedergeburt verhält es sich ähnlich wie mit den Gottesbeweisen in der 
	christlichen Tradition. Denn die sogenannten Gottesbeweise haben 
	höchstwahrscheinlich keinem Menschen Gott beweisen können. Sie haben aber 
	diejenigen Menschen, die immer schon an Gott glauben, in ihrem Glauben bestärken können. In diesem Sinne waren 
	die Gottesbeweise nicht Anmarschwege von unten zu Gott, sondern gleichsam 
	Fallbrücken, die vom Gottesglauben heruntergelassen 
	wurden, damit die Menschen nachher um so besser hinaufsteigen können.
	
	
	Genauso dürfte es sich mit den Fakten verhalten, die auf Reinkarnation 
	hindeuten und die man sensibel zur Kenntnis nehmen muss. Freilich lassen 
	sich diese Fakten auch ganz anders interpretieren. Um nur ein ganz 
	einfaches Beispiel zu nennen: Vor einigen Jahren habe ich einen Bericht von 
	einer Haushälterin eines katholischen Pfarrers gelesen, die auf dem 
	Sterbebett perfekt hebräische Psalmen zitiert hat, wiewohl sie nie
	Hebräisch gelernt hatte. Was liegt angesichts dieses Phänomens zunächst 
	anderes nahe als der Schluss, diese Frau müsse in ihrem früheren Leben 
	Hebräischprofessorin in Tel Aviv gewesen sein? Der wahre Grund 
	für diese eigenartige Erscheinung war freilich ein anderer. Diese 
	Haushälterin hatte einen hervorragenden Pfarrer, und dieser Pfarrer war 
	deshalb hervorragend, weil er auch über das Alte Testament gepredigt und 
	seine 
	Predigt immer auf dem hebräischen Urtext vorbereitet hat, den man laut 
	liest. So ist es dazu gekommen, dass die Pfarrhaushälterin ein Leben lang 
	ihren Pfarrer hebräisch hat reden hören, was sich irgendwo in ihrem 
	Unterbewusstsein abgelagert hat und was im Sterbeprozess an die Oberfläche 
	getreten ist. Mit diesem schlichten Beispiel soll nur gesagt sein, dass es 
	in der Tat Phänomene gibt, die auf Reinkarnation hindeuten, 
	dass sich damit aber Reinkarnation nicht beweisen lässt. Von daher bleiben 
	wir auch bei dieser Frage nach dem Leben nach dem Tod auf Glauben 
	angewiesen; und die einzig sinnvolle Frage, die man als christlicher 
	Theologe stellen kann, ist die, ob diese Vorstellung mit dem christlichen 
	Glauben überhaupt übereinstimmen kann oder nicht.
	
	
	3. Reinkarnation — eine Frage der Gerechtigkeit Gottes?
	
	Bevor dieser Frage weiter nachgegangen werden kann, muss der Hauptgrund beim 
	Namen genannt werden, warum heute so viele Menschen von der Lehre der 
	Wiedergeburt fasziniert sind. Der entscheidende Grund 
	dürfte darin liegen, dass diese Hoffnung zumindest auf den ersten Blick eine 
	auch intellektuell befriedigende Erklärung für die tatsächliche Ungleichheit 
	der Menschen in der Welt zu geben vermag und dass sich damit 
	das uralte Problem der Ungerechtigkeit in unserer Welt lösen lässt. Ist es 
	in der Tat nicht ungerecht, dass viele Menschen in erbärmlichen 
	Verhältnissen leben müssen, dass andere Menschen bereits verkrüppelt oder
	debil auf die Welt kommen, und dass andere Menschen nach einem nur sehr 
	kurzen Leben, beispielsweise durch einen Verkehrsunfall, sterben müssen? Ist 
	es nicht furchtbar ungerecht, dass ein Mensch lebenssatt mit 95 Jahren gerne stirbt und ein anderer Mensch mit 15 Jahren 
	durch einen Unfall ums Leben kommt? Wo ist denn da die Gerechtigkeit? Auf 
	diese Frage scheint die Lehre von der Wiedergeburt eine 
	eindeutige Antwort geben zu können. Denn sie löst dieses Problem dadurch, 
	dass sie den ungerecht leidenden Menschen weitere Chancen und neue 
	Lebensmöglichkeiten auf unserer Welt anbietet. Einige Anhänger 
	der Wiedergeburtslehre gehen sogar so weit, dass sie annehmen, jeder Mensch 
	müsse alle Facetten des Menschseins erlebt haben, um fähig werden zu können, 
	in die Vollendung einzugehen. Dies bedeutet konkret,
	dass der Mensch einmal als Mann und einmal als Frau wiedergeboren werden 
	muss, einmal als Verheirateter und einmal als Ordensmensch, einmal als 
	Pfarrer und ein anderes Mal als Bankräuber. Denn nur auf 
	diesem Wege sei es möglich, alle Facetten des Menschseins erleben zu können.
	
	Es dürfte genau dieses Problem der Ungerechtigkeit und das hinter ihm 
	verborgene Problem des Leidens in der Welt sein, das die heute ständig im 
	Wachsen begriffene Hoffnung auf Wiedergeburt verstehbar macht. In 
	früheren Jahrhunderten wurde das Problem des Leidens zum Fels des Atheismus 
	erklärt; heute jedoch wird das Problem des Leidens zum Anlass und Antrieb 
	neuer Hoffnung, die zudem verspricht, das letztlich 
	unlösbare Problem der Vereinbarkeit des Leidens der Menschen mit der Annahme 
	eines gütigen und allmächtigen Gottes zu erklären. In diesem Sinne schreibt 
	Allan Kardec, ein entschiedener Verfechter der
	Reinkarnationslehre: «Die Reinkarnationslehre, die dem Menschen mehrere sich 
	folgende Existenzen zuschreibt, ist die einzige, die der Gerechtigkeit 
	Gottes für die Menschen entspricht, die Zukunft erklärt und unsere 
	Hoffnung festigt, weil sie uns die Mittel gibt, unsere Irrtümer durch neue 
	Prüfungen wieder gutzumachen.»
	
	Vom christlichen Glauben her ist freilich zurückzufragen, welche Vorstellung 
	von Gerechtigkeit hinter dieser Annahme steht. Dabei handelt es sich um eine 
	auf den ersten Blick lapidare Frage. Denn jeder Mensch 
	scheint doch zu wissen, was gerecht ist. Sieht man freilich genauer zu, gibt 
	es zwei grundverschiedene Vorstellungsweisen von Gerechtigkeit. Die eine 
	sagt: jedem das Gleiche, und die zweite sagt: jedem das Seine. 
	Zwischen diesen beiden Vorstellungsweisen besteht ein großer Unterschied. 
	Stellen wir uns einmal vor, wir wären noch in der Schule und hätten die Wahl 
	zwischen zwei Lehrern: dem Lehrer A, der nach dem Prinzip
	«jedem das Gleiche» handelt, der folglich einen absoluten 
	Maßstab hat, der 
	alle seine Schüler über diesen Leisten schlägt und die Schüler demgemäß 
	benotet, und dem Lehrer B, der nach dem Prinzip «jedem das Seine» handelt und der folglich seine Schüler nach den ihnen 
	eigenen Möglichkeiten beurteilt. Welchen Lehrer würden wir bevorzugen?
	
	
	Ich für meinen Teil würde Lehrer B bevorzugen, der jedem so, wie es ihm 
	zukommt, gerecht zu werden versucht. Dabei darf man die schöne Entdeckung 
	machen, dass der Lehrer B sogar im Evangelium vorkommt.
	Denken wir nur an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16), 
	in dem die Arbeiter zwar zu verschiedenen Tagesstunden ihre Arbeit 
	aufnehmen, aber doch alle den gleichen Lohn erhalten. Dieses Gleichnis wirkt 
	auf uns ungemein skandalös, und noch skandalöser wirkt die Begründung des Gutsbesitzers für sein 
	Verhalten: Alle bekommen den gleichen Lohn, weil der Gutsbesitzer – gemeint 
	ist natürlich Gott – gut ist. Gott, so zeigt es das Evangelium, 
	handelt offensichtlich nach dem Prinzip «jedem das Seine», so wie es ihm zukommt und wie es ihm 
	gemäß ist. Erst 
	dies ist eine ungemein tröstliche Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit. Die 
	zweite Rückfrage, die aus der Sicht des christlichen Glaubens
	an die Vorstellung der Wiedergeburt
	zu stellen ist, ist die, ob sie das Problem des Leidens wirklich zu lösen 
	vermag, wie sie vorgibt, oder ob sie es nicht einfach ins vorgeburtliche 
	Leben zurückdatiert. Die Lehre von der Wiedergeburt geht ja davon aus, 
	dass wir Menschen immer schon als präexistente Seelen vor unserer Geburt bei Gott gelebt haben. Dann aber 
	stellt sich von selbst die Frage, wie denn diese Seelen auf die letztlich 
	absurde Idee kommen, in unsere Welt einzutreten. Auf diese Frage
	antworten die meisten Vertreter der
	Reinkarnationslehre, dass dies aufgrund eines vorirdischen präexistenten 
	Sündenfalls der Seele geschehe. Deshalb müssten sie auf unsere Erde kommen, 
	um diesen vorirdischen Sündenfall wieder gutzumachen. Mit
	dieser Auskunft freilich wird das Problem nur noch 
	größer. Denn dass wir als endliche und damit beschränkte Menschen auf der Erde
	auf die Idee kommen, zu sündigen, dürfte einigermaßen einleuchten. Dass wir aber als präexistente
	Seelen bei Gott auf die Idee kommen, zu sündigen,
	dazu brauche ich persönlich unendlich viel mehr
	Glauben. In dieser Annahme eines präexistenten 
	Sündenfalles aber liegt der entscheidende Hintergrund der Lehre von der Reinkarnation. Demgegenüber ist der christliche Glaube davon überzeugt,
	dass das jetzige Leben ein absoluter Ernstfall ist,
	dass das jetzige Leben über Leben und Tod entscheidet und dass folglich der Austritt aus diesem
	Leben und der Eintritt in eine andere Welt endgültig
	sein werden.
	
	
	4. Evolutions- oder Unterbrechungszeit
	
	
	Diese Überzeugung vom einmaligen Ernstfall des
	Lebens auf dieser Erde setzt natürlich ein anderes
	Verständnis der Zeit als das heute üblich gewordene 
	voraus. Vor einigen Jahren hat der deutsche Schriftsteller Botho Strauss ein Buch geschrieben, das den
	auf den ersten Blick merkwürdigen Titel trägt: «Beginnlosigkeit». Tiefer gesehen, hat er damit das
	durchschnittliche Zeitempfinden des heutigen Menschen treffend beim Namen genannt. Dabei bleibt
	nur hinzuzufügen, dass der von Strauss diagnostizierten Beginnlosigkeit im heutigen Empfinden
	natürlich und erst recht auch die Finallosigkeit der
	Zeit entspricht. Im Grunde sind wir Menschen heute
	fasziniert von einer Zeit, die weder einen Anfang
	noch ein Ende zu kennen scheint und deshalb den
	Namen «Zeit» eigentlich gar nicht verdient. Hier
	dürfte der Grund liegen, warum sich vielen Menschen heute die Zeit immer mehr entwichtigt, wie-
	wohl sie ständig im Fluss ist. Man kann sie weder anhalten noch zurückdrehen; alles geht vorbei, ver-
	schwindet, lenkt sich seinem unerbittlichen Ende zu. Die Menschen heute aber glauben weithin an eine
	evolutionär stets fortschreitende oder auch an eine immer wiederkehrende Zeit. Hier liegt es begründet,
	dass in der heutigen Zeit, in der das Gespür für die Zeit immer mehr verloren geht, gerade der Glaube an
	die Wiedergeburt des Menschen Hochkonjunktur hat. Denn in der stets weitergehenden und wieder-
	kehrenden Zeit gibt es nur noch Hypothetisches, aber nichts Endgültiges mehr.
	
	Demgegenüber ist der christliche Glaube gerade von einer evolutionär zerdehnten oder stets
	nicht 
	wiederkehrenden Zeit überzeugt. Er verkündet vielmehr eine befristete Zeit, die sowohl einen Anfang
	als auch ein Finale kennt. Und dieser Horizont
	befristeter Zeit bedeutet gerade nicht eine Entwichtigung der Gegenwart. Im 
	Gegenteil: Erst in dienern Horizont wird Gegenwart in jener emphatischen
	Weise erfahrbar, die für die biblische Botschaft
	kennzeichnend ist. Für sie ist die Zeit der Geschichte unendlich kostbar, weil sie der Ort der
	menschlichen Verantwortung ist. Gerade diese 
	Dimension ist ausgezeichnet durch das nie wiederkehrende und deshalb unendlich kostbare «Heute»,
	auf dem die biblische Botschaft energisch besteht,
	wie gerade die Zachäusgeschichte überdeutlich
	zeigt: «Heute muss ich in deinem Haus Gast sein!» «Heute ist diesem Haus das 
	Heil geschenkt worden» (Lk 19,1-10). Von daher dürfte es kein Zufall sein,
	dass sich dieses neue Zeitverständnis der Bibel in
	der deutschen Sprache kaum ausdrücken lässt. Demgegenüber kennt die griechische Sprache für
	das eine deutsche Wort «Zeit» zwei Begriffe mit
	recht unterschiedlichem Inhalt: «Chronos» ist ein
	rein quantitativer Begriff und bezeichnet die messbare Zeit. Diese ist vor allem Uhrzeit, die durch
	objektive Beobachtung erfasst und am Chronometer 
	abgelesen werden kann, der ohnehin die Schlüssel
	maschine des modernen Industriezeitalters geworden ist. «Kairos» ist demgegenüber ein qualitativer
	Begriff. Er bedeutet eine besonders günstige Gelegenheit oder auch eine andrängende Situation für
	fällige Entscheidungen. Und diese Zeit lässt sich nicht
	ohne persönliche Betroffenheit und innere Beteiligung
	des Beobachtenden selbst erfahren. Während viele Menschen heute in der fatalen Gefahr
	stehen, die gegenwärtige Weitzeit im Sinne des «chronos» –geradezu chronisch (!) –misszuverstehen,
	zeichnen sich Christen dadurch aus –sie sollten es jedenfalls und könnten es auch! –, dass sie das biblisch
	bezeugte befristete Wesen der Zeit wahrnehmen und
	daraus Konsequenzen für die Lebensgestaltung ziehen,
	wie sie in einer rabbinischen Legende deutlich werden:
	Ein jüdischer Rabbi sagte einmal zu seinen Schülern:
	«Tut Busse einen Tag vor eurem Tod!» Darauf fragte
	ihn einer seiner Schüler: «Weis denn der Mensch, an
	welchem Tag er sterben muss?» Darauf antwortete der
	Rabbi: «Eben darum kehre er heute um, vielleicht muss er morgen sterben. So lebt er alle Tage die
	Umkehr, so lebt er jeden Tag, als wäre er der letzte.»
	In der Tat: jeden Tag so zu leben, als wäre er der letzte!
	Dies heißt leben im biblischen Kairos. Dies kann
	natürlich nicht bedeuten, dass unsere alltäglichen Sorgen und Geschäfte bedeutungslos würden. Es 
	heißt aber sehr wohl, jeden Tag vom letzten Sinn her und auf
	das letzte Ziel hin zu gestalten. Und dies gibt unserer
	Zeit Gewicht. Denn mit unserem Leben verhält es sich
	wie mit den Ferien: Wer im Jahre 52 Wachen Ferien
	hat, hat im Grunde keine Ferien mehr. Wer aber zwei
	oder drei Wochen Ferien hat und darum weis, wie
	begrenzt sie sind, wird versuchen, das Beste aus ihnen
	zu machen. So vermag auch ein besseres Leben zu führen, wer immer wieder ein Rendezvous mit dein eigenen Tod hat.
	
	
	5. Die tröstliche Botschaft des Fegefeuers
	
	
	In diesem Zeitverständnis ist die Überzeugung ausgedrückt, dass sich im jetzigen Leben auch Ewigkeit
	entscheidet. Diese Überzeugung vom einmaligen Ernstfall des jetzigen Lebens 
	heißt natürlich nicht,
	dass nicht jenseits des Todes weitere Lebensentfaltungen möglich wären. Diese Annahme ist in
	der katholischen Tradition aufbewahrt mit der Vorstellung vom Fegefeuer. Diese setzt voraus, dass es
	im menschlichen Leben viel Unaufgearbeitetes und Misslungenes gibt, das nach dem Tod noch der Reinigung und der Läuterung bedarf. Insofern setzt die
	Fegefeuerlehre voraus, dass der Mensch sich auch
	nach seinem Tod weiterentwickeln kann. In der christlichen Auseinandersetzung mit der Wiedergeburtslehre legt es sich deshalb nahe, auf dieses
	alte Glaubenstraditionsstück der katholischen 
	Kirche zurückzukommen. Gebhard Frei hat jedenfalls mit Recht das «ernste Anliegen» sowohl der Fegefeuerlehre wie auch der Reinkarnationslehre darin
	gewürdigt, dass sie eine «Ahnung vom großen Reifeprozess» verraten, «zu dem jede geistige Seele
	berufen ist»: «Nichts Unreines und Unreifes kann in
	die letzte Vollendung bei Gott eingehen.» Die Vorstellung des Fegefeuers bietet sich deshalb
	als jene Glaubensaussage des Christentums an, die
	die wohl engste gedankliche Verbindung mit der Reinkarnationslehre aufweist. Auch der christliche
	Glaube setzt mit seiner Überzeugung von der Notwendigkeit der 
	Reinigung des Menschen nach seinem Tod voraus, dass es im menschlichen Leben
	viel Misslungenes gibt, das der Läuterung bedarf! Allerdings —
	für diese Läuterung schickt der christliche Glaube den Menschen nach seinem Tod nicht
	ins Exil eines zweiten oder dritten Lebens, damit er
	dort das nachholen kann, was er in seinem ersten
	Leben nicht geschafft hat. Denn es ist nicht der
	Mensch, der sich selbst läutert, sondern Gott selbst
	bereitet den Menschen in der personalen Begegnung
	des Verstorbenen mit sich durch das «Feuer» seiner
	göttlichen Liebe für das Eingehen in das ewige Leben. Von daher kann man auf der einen Seite den
	christlichen Fegefeuerglauben als eschatologische
	Verdichtung der Reinkarnationslehre auf einen jenseitigen Läuterungsprozess im Angesicht Gottes
	und auf der anderen Seite die Reinkarnationslehre
	als vom Jenseits ins Diesseits transponiertes und
	zudem auf verschiedene Erdenleben zerdehntes «Fegefeuer» verstehen.
	Vorausgesetzt ist dabei natürlich, dass die traditionelle Vorstellung des Fegefeuers von den problematischen Ausmalungen der Volksfrömmigkeit befreit
	werden kann. Die traditionelle Vorstellung des Fegefeuers zeigt, wie sehr die überschießende
	Phantasie der Menschen hinsichtlich des konkreten
	Wie des noch von irdischer Schuld zu reinigenden
	Menschen offenbar nie genug haben konnte, so dass
	aus dem tröstlichen Geschehen des Fegefeuers insbesondere in den problematischen Ausmalungen der
	Volksfrömmigkeit mehr und mehr eine jenseitige Folterkammer oder gar ein «göttliches» Konzentrationslager geworden ist. Bedenkt man aber, dass
	es sich bei der Glaubensaussage des Fegefeuers um
	eine zentrale innere Dimension der personalen Gottesbegegnung 
	des Menschen im Tod handelt, erweist sie sich als elementares Evangelium, dessen
	in der Läuterung des Menschen im
	Kerngedanken Gottes, des
	im Verzehrt- und Ausgeschmolzenwerden
	- des 
	Menschen im brennenden Feuer der reinen 
	göttlichen Liebe liegt: Im Tod steht der Mensch in 
	seiner eigenen Endgültigkeit vor Gott, die freilich 
	von Gott her betrachtet nur eine
	 vorläufige sein kann, genauerhin eine, die vorläuft in die allein von
	Gott den Menschen geschenkte Vollendung, 
	weshalb man das Fegefeuer mit der treffenden Formulierung Bernd Jochen Hilberaths als «Vorlauf zum Himmel» bezeichnen kann. In dieser vorlaufenden 
	Endgültigkeit des heilenden Läuterungsgeschehens des Fegefeuers erkennt der Mensch endgültig und ohne jede Maske, wer er in Tat und
	Wahrheit ist. Indem der Mensch im Tod vor die Unbegreiflichkeit des absoluten Geheimnisses und
	vor die Unauslotbarkeit der Majestät Gottes tritt, findet er – endlich! – seine Identität, auf die hin er
	ein ganzes Leben lang unterwegs war.
	
	
	Vom tröstlichen Geschehen des Fegefeuers darf
	man sich deshalb den endgültigen Gewinn der
	menschlichen Identität erwarten. Denn während des
	irdischen Lebens weiß man nie so genau, wer man
	eigentlich ist„ Man hat immer nur eine 
	blasse
	Ahnung davon, wer man sein könnte. Deshalb
	kommt man immer wieder in die Situation, mit Sören Kierkegaard zu klagen: «Traurig grüsst der,
	der ich sein sollte, den, der ich bin.» Fegefeuer aber
	heißt zutiefst, dass wir unsere Identität in der Begegnung mit Gott 
	endgültig finden. Solche Identitätsfindung kann aber nicht gelingen ohne
	 Erkenntnis und Anerkenntnis 
	der eigenen Schuld des Menschen. Vielmehr wird der Mensch im unmittelbaren
	Auge in Auge mit seinem Befreierrichter gleichsam
	von selbst seiner eigenen Schuld inne, und zwar im
	ursprünglichen Sinn, dass er die Verwirklichung der
	ihm von Gott zugeeigneten unverwechselbaren Bestimmung weithin schuldig geblieben ist. 
	Dies aber bedeutet, dass sich der Mensch in der unmittelbaren
	Gottesbegegnung eigentlich selbst richtet. Wer der
	abgründigen Verborgenheit dieses Läuterungsgeschehens ansichtig wird, für den wird dieser prüfende
	und reinigende « Feuerblick Gottes» (Hebr 12,29)
	jedenfalls Schmerz und auch Strafe genug sein. Wer
	hingegen darüber hinaus in seiner überschiessenden Phantasie noch mehr meint aussagen und noch mehr
	«Strafen» erfinden zu müssen, würde letztlich über
	das Fegefeuer weniger und zu wenig aussagen und
	die evangelische Hoffnungsaussage des Fegefeuers
	gründlich verderben.
	
	
	Das Fegefeuer meint also den heilenden Prozess der
	Läuterung des Menschen in der Begegnung mit
	Gott. Damit ist vorausgesetzt, dass der Mensch sich
	jenseits des Todes noch weiter entwickeln kann,
	wenn er dazu bereit ist, sich von Gott heilen zu lassen. 
	In diesem Sinne ist der Glaube an das Fegefeuer
	ein ungemein tröstliches Evangelium. Es ist so tröstlich, dass man es, gäbe es dieses nicht schon, erfinden müsste. Denn in ihm ist die Botschaft aufbewahrt, dass der Mensch nicht als perfekter,
	vollendeter Mensch sterben muss, dass er vielmehr das Recht hat, auch als 
	mäßiger Mensch sterben zu können, weil all das Unaufgearbeitete in seinem
	Leben im liebenden Feuer Gottes ausgeheilt werden
	wird. Demgegenüber enthält 
	die Lehre von der Wiedergeburt die rigide Zumutung an den Menschen,
	sich selbst zu vervollkommnen, so dass er sich selbst ins Jenseits heimbringen muss. Damit 
	stoßen wir auf einen weiteren radikalen Unterschied zwischen der Wiedergeburtslehre und dem christlichen
	Fegefeuerglauben.
 
	
	
	6. Gnade oder Leistung?
	
	
	Als Hoffnung auf die endgültig-gültige Läuterung des Menschen durch und bei Gott enthält die christliche Glaubensaussage des Fegefeuers die tröstliche
	Verheißung, dass die Vollendung des menschlichen
	Lebens nicht allein dessen eigene Leistung ist, sondern das befreiende
	Gnadengeschenk Gottes selbst. Demgegenüber setzt die Lehre von der Reinkarnation voraus, dass es letztlich der Mensch selbst ist,
	der sich ins ewige Leben hineinbringt, und zwar
	dadurch, dass er sich durch den Prozess der Wiedergeburten zurüstet, bis er bereit sein wird, in die
	Ewigkeit einzugehen. Von daher erweist sich die
	Lehre von der Wiedergeburt als sehr symptomatisch
	für unsere gegenwärtige gesellschaftliche Lebenswelt, die im Kern eine Leistungsgesellschaft geworden ist. In der heutigen Gesellschaft zählt die Leistung zu den höchsten Werten des Menschen. Der
	Mensch ist in der heutigen Gesellschaft im Grunde
	genommen genau soviel wert, wie er leisten kann und
	wie er dementsprechend ökonomisch sich leisten kann. Von daher ist es beispielsweise kein Zufall, dass
	in der heutigen Gesellschaft zwei Probleme miteinander akut geworden sind, nämlich das Problem der
	Abtreibung und das Problem der Euthanasie. Handelt
	es sich im ersten Fall um menschliches Leben, das
	noch nichts leisten kann, geht es im andern Fall um
	menschliches Leben, das nichts mehr leisten kann.
	Beide, sowohl das ungeborene als auch das alte, leidende, kranke und sterbende Leben haben aber auf der
	Börse unserer heutigen Leistungsgesellschaft einen
	ungemein schwachen Kurswert.
	
	
	In dieser von der Leistungsideologie geprägten Gesellschaft scheint es auf den ersten Blick
	verständlich zu sein, dass der Mensch nun auch in seiner Hoffnung auf
	ein Leben nach dem Tod nicht mehr auf Gnade und
	Geschenk angewiesen sein, sondern dass er auch und
	gerade den Prozess der Vollendung seines eigenen
	Lebens selbst erleisten will. Diese Vorstellung, dass
	der Mensch seine Reifung und Selbstverwirklichung
	und damit die Vollendung seines eigenen Lebens 
	selbst leisten muss, steht letztlich hinter jedweder Gestalt der Seelenwanderungslehre. Dafür diese Aufgabe
	des Selbstwerdens und der Vollendung der eigenen Person ein Menschenleben zumeist nicht hinreicht,
	ergibt sich notwendigerweise das Postulat einer Abfolge von mehreren Wiedergeburten, die allererst
	das Heraufarbeiten des Menschen zu seiner Vollendung möglich machen.
	
	
	Demgegenüber ist der christliche Glaube der Überzeugung, dass der Mensch es nicht selbst und
	allein leisten muss, Mensch zu werden und seine Möglichkeiten zu verwirklichen. Die Vollendung
	des Menschseins ist vielmehr das Gnadengeschenk Gottes. An diesem Prozess der Menschwerdung
	und Vollendung ist der Mensch selbstverständlich mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten aktiv
	beteiligt, insofern seine wesentliche Aufgabe darin 
	besteht, dem Gnadengeschenk Gottes in der Freiheit seiner Liebe zu entsprechen. Dennoch ist die
	Vollendung des menschlichen Lebens letztlich nur
	möglich durch das Gnadengeschenk Gottes und die ihm entsprechende Antwort des Menschen im
	Auferstehungsleben bei Gott. Insofern regiert im christlichen Glauben das Prinzip der Gnade. Und dieses Prinzip der Gnade ist für
	den christlichen Glauben schlechthin entscheidend. Freilich darf man nicht verschweigen, dass
	auch dieses Grundwort «Gnade» heute einen großen Kursverlust erlitten hat. Das Wort «Gnade»
	gehört zu den in der Kirche am meisten gebrauchten Wörtern. Es gehört heute freilich auch zu den
	am meisten abgeschliffenen Wörtern. Zu nahe liegen die Assoziationen an feudale Reste, wie sie
	sich etwa in der devoten Anrede eines Fürsten oder
	eines Bischofs als eines «gnädigen Herrn» aussprechen. «Gnade» ist 
	deshalb im durchschnittlichen Bewusstsein selbst der Christen zu einem
	Wort der Abhängigkeit und Unterwürfigkeit verkommen. Sieht man freilich genauer zu, kommt
	auch der heutige Mensch nicht darum herum, von Gnade zu reden. Dabei sind es vor allem zwei
	Lebensbereiche, in denen von Gnade die Rede ist:
	
	Der eine Lebensbereich ist derjenige der Rechtsprechung. Wird auf der einen Seite Schuld gesprochen und auf der anderen Seite Schuld auch wirklich
	eingestanden, bleibt nur noch die eine Möglichkeit,
	Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Bei aller Blassheit dieses Sprachgebrauchs kommt damit zum
	Ausdruck, dass Gnade ein letztlich unverdientes Geschenk ist. Der andere Lebensbereich ist derjenige der Kunst. Wir reden gerne von einem begnadeten Künstler und bringen damit zum Ausdruck,
	dass bei aller genialen Höchstleistung eines Künstlers sein Werk letztlich 
	ein nicht erzwingbares Geschenk schöpferischer Freiheit ist. Bei aller Blassheit
	dieses Sprachgebrauchs kommt damit wiederum zum Ausdruck, dass Gnade letztlich unverfügbar ist.Beide Lebensbereiche werden vom christlichen
	Glauben aufgenommen und dahin vertieft, dass letztlich alles Gnade ist. Gnade ist im christlichen
	Glauben auch und gerade die Vollendung des menschlichen Lebens bei Gott, wo er vollendet, ganz und
	deshalb rund sein wird. Von daher ist die in mythologischer Sprache ausgedrückte Vorstellung bei
	einigen Origenisten verbreitet gewesen, dass die
	Menschen im Himmel eine Kugelgestalt haben werden. Hinter dieser Vorstellung ist eine tiefe Wahrheit
	verborgen. Denn die Behauptung, dass alle Menschen im Himmel rund und 
	damit Kugeln sein werden, wurde damit begründet, dass allein diese Vorstellung die Vollendung des Menschen im ewigen
	Leben adäquat zum Ausdruck bringen kann. In sprachgeschichtlicher Hinsicht ist es besonders
	interessant, dass im Hebräischen das Wort «rund» in
	unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wort schalanlu» steht, was unzerstückelt 
	sein bedeutet und von dem sich das Wort «Schalom» ableitet.
	
	
	7. Wiedergeburt in der Taufe
	
	
	Dieser «Schalom» kann den Menschen in der Sicht des christlichen Glaubens aber nur von Gott geschenkt werden. Hier liegt es zutiefst begründet,
	weshalb auch der christliche Glaube von Wiedergeburt redet. Diese Wiedergeburt ereignet sich dabei
	an einem spezifischen Ort, nämlich in einem Bad.
	Und dieses «Bad der Wiedergeburt» (Tit 3,5) ist die
	christliche Taufe auf Tod und Auferstehung Jesu
	Christi. Für den christlichen Glauben gibt es folglich keine Wiedergeburt nach dem Tod, wohl aber
	eine Wiedergeburt im jetzigen Leben. Denn im Zum-Glauben-Kommen, das seinen unüberbietbaren Ausdruck findet in der christlichen Taufe, wird
	der Mensch zu neuem Leben wiedergeboren: «Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren
	wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen»
	(Joh 3,5). Nach christlichem Verständnis ereignet
	sich die wahre Wiedergeburt des Menschen in der
	Taufe auf den Tod Jesu Christi. Getauft zu werden
	heißt somit, mit Christus zusammen zu sterben als
	«alter Mensch», um ebenso zusammen mit ihm auferweckt und neu geboren zu werden, wie dies
	Paulus treffend ausdrückt: «Wisst ihr denn nicht,
	dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod;
	und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters
	von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir
	als neue Menschen leben» (Röm 6,3-4). Die Taufe des Christen beinhaltet somit eine elementare Vorverlagerung unseres Todes: Der Tod,
	den wir am Ende unseres Lebens sterben werden, bleibt zwar oft genug ein schmerzlicher Tod; aber
	im Grunde genommen zählt er nicht mehr, weil wir,
	durch die Taufe aufgenommen in die Kirche als die
	Gemeinschaft der von Gott her Wiedergeborenen,
	bereits jetzt im Leib des auferweckten Christus
	leben. Der viel ernsthaftere Tod, in dem wirklich
	eine ganze Welt aufgegeben wird und eine neue Welt sich eröffnet, ist die Taufe, der Übergang aus
	der alten Gesellschaft des alten Menschen in die
	neue Gesellschaft des Menschensohnes. Die eigentliche Scheidelinie des christlichen Lebens ist somit
	nicht der Tod, sondern die Taufe. Die Taufe ist geradezu die spezifisch christliche Definition von Tod
	und Wiedergeburt.
	
	
	Diese Wiedergeburt ist ein für allemal geschehen in der Taufe, um sie freilich jeden Tag neu zu bewähren und die überfälligen Konsequenzen daraus zu
	ziehen. Diese Konsequenzen sind riesengroß, wenn
	man beispielsweise bedenkt, wie konkret Paulus sie
	entfaltet hat, indem er eine ihm überlieferte Taufformel aufgegriffen hat: «Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Jesus Christus, denn ihr alle, die
	ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als
	Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und
	Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus» (Gal
	3,26-28). Diese Taufformel enthält eine feierliche
	Erklärung, die ursprünglich über alle Neugetauften
	ausgesprochen worden ist. Und diese feierliche Erklärung bedeutet die wahre Subversion der christlichen 
	Taufe. In ihr geht es schlechterdings um die Aufhebung aller historisch-gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und damit um die Überwindung der drei
	entscheidenden Ursünden, die auch heute noch die
	Weltgesellschaft elementar bedrohen, nämlich erstens des Rassismus, d. h. der
	Diskriminierung bestimmter menschlicher Rassen zugunsten zumeist der
	eigenen Rasse; zweitens des Imperialismus, d. h. der
	Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher 
	Stände zugunsten anderer gesellschaftlicher Stellungen und wirtschaftlicher Positionen; und drittens des
	Sexismus, d. h. der Diskriminierung der Frauen 
	zugunsten der Männer. Das Untertauchen der Menschen in Wasser und Geist der christlichen Taufe markiert für Paulus den unwiderruflichen Beginn der
	endgültigen Wiederherstellung der von Gott gemeinten Ordnung einer 
	wirklich solidarischen Gesellschaft, die in Frieden und Gerechtigkeit lebt. Diese
	neue Gesellschaft soll und kann aufgrund der Taufe in
	der christlichen Kirche beginnen, wie es der erste Johannesbrief sehr schön ausdrückt: Wir wissen,
	«dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben» (1 Joh 3,14).
	So ernst will der christliche Glaube unser jetziges Leben nehmen, dass er jeden einzelnen Tag zum Tag
	der Umkehr zu Gott und seinem Reich in Frieden und Gerechtigkeit bestimmt. Diese Wiedergeburt
	der christlichen Umkehr, die grundgelegt ist in der Taufe, muss sich deshalb heute ereignen. Denn
	Buße im Sinne der christlichen Umkehr beinhaltet
	die lebenslange Aneignung der Wiedergeburt des
	Taufbades. Eben deshalb verträgt diese geschichtliche Umkehr keine Vertagung auf den Sanktnim-
	merleinstag oder gar auf weitere Leben, wie die Seelenwanderungslehre 
	verheißt. Von daher muss
	die Frage zumindest erlaubt sein, ob die Seelenwanderungslehre wohl deshalb heute so viele Christen anspricht, weil sie ihnen ein schlechtes Gewissen ob der im jetzigen Leben so oft ausbleibenden
	Umkehr zur wahren Wiedergeburt in der Taufe erspart. Wer aber die Tragweite der christlichen Zumutung zur 
	Buße jeden Tag erfasst, kann letztlich gar
	nicht anders, als wirklich nur einmal auf Erden leben
	zu wollen. Denn er lebt aus der gewissen Hoffnung
	heraus, dass er nach dem einmaligen Ernstfall des
	jetzigen Lebens auf unserer Erde für alle Ewigkeit
	bei und mit Gott leben wird aus reiner Gnade.
	
	
	8. Reinkarnation in der christlichen Tradition?
	
	
	Diese Überzeugung verwandelt unser Leben zu etwas Endgültigem und nimmt ihm den Charakter
	des Hypothetischen. Denn sie deutet den Exodus des Menschen aus diesem Leben in seinem Tod
	nicht einfach um zu einem harmlosen Transitus von
	einem Leben zum andern, wie es die Lehre von der
	Wiedergeburt letztlich annimmt; der Tod wird im 
	christlichen Glauben vielmehr radikal ernst genommen als Abbruch des jetzigen irdischen Lebens und
	als Auferstehung zu einem neuen Leben bei Gott.
	Hier liegt der tiefste Grund, weshalb in der ganzen 
	Tradition des Christentums die Lehre von der Wiedergeburt eigentlich nie Fuß fassen konnte.
	
	
	Dies gilt auch und gerade im Blick auf die Alte Kirche und hier in besonderer Weise für Origenes,
	der immer wieder als Zeuge für die Lebendigkeit der Seelenwanderungslehre in der frühen Kirche
	herangezogen wird. Sieht man freilich genauer zu, dann zeigt sich, dass Origenes zwar die Präexistenz
	der Seele gelehrt hat, die ja eigentlich die Voraussetzung für 
	Wiedergeburt ist, dass er aber die Wiedergeburt gerade abgelehnt hat. Wenn folglich auf
	der Versammlung der Konstantinopolitanischen Kirchenprovinz im Jahre 543 Lehrsätze des Origenes verurteilt worden sind, lässt sich daraus nicht
	auf eine Verurteilung der Seelenwanderungslehre in
	der Alten Kirche schließen. Die genannte 
	Kirchenprovinz definierte vielmehr folgenden Lehrsatz gegen die Origenisten: 
	«Wer sagt oder daran festhält, die Menschenseelen hätten ein Vorleben
	gehabt, d. h. sie seien zuvor Geister und heilige
	Gewalten gewesen, sie seien aber der göttlichen
	Anschauung satt geworden, hätten sich dem Bösen
	zugewandt, seien deshalb in der Liebe Gottes erkaltet, hätten so den Namen Seelen (= die Kalten)
	bekommen und seien zur Strafe dafür in die Körper
	gebannt worden, der sei ausgeschlossen.»
	
	
	Aus dieser Verurteilung kann man unmöglich rückblickend 
	schließen, damit sei die Seelenwanderungslehre abgelehnt worden und vor dieser
	Zeit sei diese Lehre eine ganz selbstverständliche
	christliche Doktrin gewesen. Die patristische Literatur und Theologie beweisen vielmehr das
	Gegenteil. Wie die späteren Konzilien haben sich
	die allermeisten Kirchenväter gegen die Seelenwanderungslehre ausgesprochen, was in besonders deutlicher Weise bei Augustinus zum Aus-
	druck kommt: «Es ist für mich einfältig zu
	glauben, dass sich die Seelen aus dem jenseitigen
	Leben, das ein vollkommen glückliches nur sein kann, wenn es die Gewähr ewiger Dauer hat, nach
	der Hinfälligkeit des verweslichen Lebens sich wieder sehnen und von dort zu diesem zurückkehren wollen.»
	
	
	Mit diesen Worten hat Augustinus in klassischer Weise ausgesprochen, wovon der christliche Glaube
	überzeugt ist, dass nämlich unser jetziges Leben 
	einmalig und somit ein radikaler Ernstfall ist. Vermag man diese Überzeugung zu teilen, versteht es
	sich leicht, dass die Vorstellung von Wiedergeburt
	und Reinkarnation mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren ist und dass diese Vorstellung
	in der christlichen Tradition nie eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Wenn man bedenkt, was alles mit
	dieser Lehre für den christlichen Glauben auf dem Spiel steht, muss sich dies eigentlich von selbst
	verstehen. Die Wiedergeburtslehre reibt sich vor allem am christlichen Interesse an der Einmaligkeit
	der Erlösung des Menschen durch Tod und Auferweckung Jesu Christi und folglich am christlichen
	Interesse an der Einmaligkeit des individuellen Menschenlebens zwischen Geburt und Tod.
	Diese erzchristliche Überzeugung gilt es heute freilich in neuer 
	Weise zu profilieren. Die weite Verbreitung der Reinkarnationsvorstellung macht diese
	Aufgabe in der christlichen Verkündigung ohne 
	jeden Zweifel überfällig. Um seiner eigenen Identität willen kann nämlich der christliche Glaube
	nicht darauf verzichten, seine Überzeugung vom fordernden und harten Lebensverständnis von der
	Einmaligkeit des Lebens gelegen oder ungelegen und keineswegs nur gelegentlich zu verkündigen,
	wie sie fundamental zur biblischen Botschaft 
	gehört, wie sie in der christlichen Taufe ihren Tatbeweis findet und wie sie 
	in der christlichen Glaubensaussage des Fegefeuers in glaubwürdiger Weise
	zum Tragen kommt.